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2. Ausgabe Herbst 2020:

Textbildband 21 x 21 cm, 272 Seiten, 

über 150 Abbildungen in s/w und Farbe.

Ausführlicher Anhang mit Stammbäumen,

Rezepten aus der Schlossküche und einem zusätzlichen Kapitel zur 2. Auflage.

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Leuchtende Tage

Vergessener Alltag auf Schloss Waldegg 1890 1990

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"Als ich Frau Seuret im zerstörten Gartenparterre des Schlosses zum ersten und letzten Mal begegnete, öffneten mir ihre Worte und ihre Haltung eine geheime Tür zum Schweigen der Waldegg. Sie erzählte mir von den alltäglichen Geschichten eines Landsitzes, der gerade dabei war, restlos zu verschwinden. Kunsthistorisch sollte das 19. und 20. Jahrhundert von der Waldegg entfernt werden und damit all jenes, was die alte Frau mit der Waldegg verbunden hatte. Ich muss damals 17 gewesen sein. Frau Seurets Schicksal bewegte mich sehr und erweckte in mir ein Gefühl für die Vergänglichkeit alles Schönen und die Anmut des Vergänglichen." 

Aus dem Nachwort des Autors

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Aus dem Kapitel Von Surys - 1920er:

Nach der Hochzeit haben Dr. Charles und Gertrud von Sury-Frölicher das Obergeschoss des Ostflügels bezogen, das über das Billardzimmer des Mittelturms mit der elterlichen Wohnung verbunden ist. Im Vergleich zu den Wohnungen in den neuen Villen der Stadt sind ihre Räume bescheiden. Geheizt wird mit Kohleöfen und dem Cheminée im Salon. In den Schlafzimmern warten Cuvetten auf die Morgentoilette. Die Kammer mit der Badewanne und dem Heisswasserofen ist winzig; die Küche kaum grösser. Ordentlich und äusserst sparsam organisiert die junge Frau die kleine Hauswirtschaft, so wie sie es im Schützenmatthof und auf den Töchterninternaten in den Alpen und in England gelernt hat. Mit Charlis Einkünften als Anwalt muss das Dienstmädchen, das Kindermädchen und die Köchin bezahlt und der Speiseplan bestritten werden. Um bei den Ausgaben für den Metzger sparen zu können, werden hinter der Waldegg Kaninchen gehalten, und beim Einkochen der Konfitüre wird der Schaum abgeschöpft und in separate Gläser für die Dienstboten gefüllt; die Fruchtstücke kommen nur auf von Surys Tisch. Das Konfekt für «Frau Doktors» Damenrunden gelangt nur abgezählt auf die étagère, damit sich die Mädchen nicht unbemerkt daran gütlich tun können. Trudi von Sury-Frölichers handschriftliches Kochbuch vereint die grossbürgerlichen Gaumenfreuden des Schützenmatthofs mit den neuen und einfachen Rezepten nach Professor Bircher-Benner, und während drüben in Madames salle à manger Robert Bieli mit weissen Handschuhen die Speisen aufträgt, atmet Trudis Haushalt die stilvoll moderne Schlichtheit des Nützlichen.
 

Aus dem Kapitel Krieg - 1939:

In ihrem Salon im Erdgeschoss verbringt Frau Doktor viel Zeit am grossen «Coq», dem riesigen Sekretär mit den zahllosen kleinen Schubfächern. Das imposante Möbel, ein trois corps aus dem 18. Jahrhundert, zeigt in feinster Einlegearbeit das Wappen der Basler Familie von Blarer: einen Hahn. Der Coq ist die Kommandozentrale des Ostflügels. Hier sitzt Frau Doktor «am Geld» und hat nun mit der allgemeinen Nahrungsmittelrationierung ihre Haushaltskasse auf Lebensmittelmarken umgestellt. Die kleinen Wertschriften sind auf strukturiertes Papier gedruckt und jeden Monat wechselt die Farbe, um zu verhindern, dass ein Markt mit gefälschten Lebensmittelmarken entsteht. Wenn Doktors abends Besuch erhalten, steht nun auf der Marmorkonsole im Entree ein Papierschiffchen, in welches die Gäste zur Unterstützung der Gastfreundschaft ihre Marken für Zucker oder Reis, Teigwaren oder Fett stecken können. Allerdings hat die Hausherrin trotz der Rationierung wenig Mühe, von den bisherigen Lieferanten alles zu bekommen, was sie braucht. Nur einmal kommt der Landjäger aufs Schloss und holt den grossen Schinken vom Dachboden, wo ihn Frau Doktor im Kamin versteckt hat. Am Coq übergibt Frau Doktor ihrer jungen Köchin Trudi auch das monatliche Salär. Trudi Ammann hat schon dreimal gekündigt und jedes Mal fünf Franken mehr Lohn erhalten. 80 Franken sind ein bemerkenswert hoher Lohn für eine junge Köchin.
 

Aus dem Kapitel Schloss der Kinder - 1950er:

Wie leicht es ist, die guten Regeln zu brechen und Tante Marguerite aus der Fassung zu bringen, birgt unzählige Verlockungen. Das Beste am Abendessen ist jedoch Tante Marguerites sportive Technik, nach dem Dienstmädchen zu rufen. Denn der schwere Esstisch ist nicht nur lang, sondern auch ausgesprochen breit; so breit, dass Marguerite mit ihren kurzen Armen nicht in der Lage ist, die Klingel zu ergreifen, die an einem mit Stoff umwickelten Kabel vom holländischen Leuchter über dem Tisch hängt. Um nicht aufstehen zu müssen – und ihrer geringen Körpergrösse damit eine unnötige Betonung zu geben –, greift Tante Marguerite nach ihrer Gabel und versetzt der bakelitgefassten Klingel einen kräftigen Stoss, um diese beim Zurückpendeln in die Reichweite ihrer Arme zu bekommen. Victor vergnügt die Darbietung seiner Schwester nicht weniger als ein Kind, und er denkt nicht daran, mit seinen langen Armen den Spielverderber zu geben. Die Gelegenheiten, in denen seine standesbewusste Schwester die Nützlichkeit über ihre guten Manieren stellt, sind selten genug.
 

Aus dem Kapitel Die Stiftung - 1960er:

Mit der Stiftung Schloss Waldegg hofft Altstaatsanwalt von Sury, seinen Familiensitz vor jeder erdenklichen Störung oder Zerstörung bewahren zu können. Marguerite, Victor und Charles verkaufen ihre letzten Besitzungen. Dazu gehört das Land im Elsass, das über Madame in die Familie gekommen ist, sowie Marguerites Bauernhof in den Freibergen. Der Verkauf der ererbten Güter sichert Marguerite und Victor einen angenehmen Lebensabend. Von Surys haben auf Waldegg ihr Bündel geschnürt. Ihr lebenslanges Wohnrecht wird sie davor bewahren, die Zukunft, die sie gesichert haben, auch erleben zu müssen. Während langer Monate war die Schenkung an den Staat zentrales Thema auf Waldegg gewesen. Doch seitdem die Angelegenheit geregelt ist, wird darüber nicht mehr geredet. Jeder der von Surys muss selber mit dem Gefühl des Verlustes umgehen oder mit dem inneren Vorwurf, dem Erbe der Ahnen nicht würdig gewesen zu sein.


 

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